Die tausendjährige Dekade
Technologischer Fortschritt war schon immer ein Motor des Wandels. Doch laut Dr. Keith Dear leben wir heute in einer »tausendjährigen Dekade« – einer Zeit, in der sich Innovationen so rasant beschleunigen, dass die kommenden Jahre mehr Veränderung bringen könnten als die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte. Keith Dear ist u.a. Senior Adviser, Global Distinguished Engineer und AI Subject Matter Expert bei Fujitsu. Zwischen 2035 und 2050, so seine Prognose mit dem Titel »Exploring the Future Operating Environment: 2035-50«, wird künstliche Intelligenz (KI) die Spielregeln der Macht, der Wirtschaft und des Krieges vollständig neu schreiben.
Bereits um 2027 könnten »schwache« ›Künstliche Allgemeine Intelligenzen‹ (Artificial general intelligence; AGI) entstehen – Maschinen, die auf dem Niveau durchschnittlicher Menschen denken. Zwei Jahre später folgt laut Crowd-Prognosen die »starke« AGI, die uns in allen geistigen Aufgaben übertreffen könnte, und bis 2032 womöglich die Superintelligenz (ASI), die jedes menschliche Können hinter sich lässt. Die Konsequenz: Eine Welt, in der Maschinen nicht nur Werkzeuge sind, sondern strategische Akteure.
Der Krieg bleibt menschlich – aber nicht von Menschen geführt
Nach Einschätzung des Autors werden innerstaatliche Konflikte – Bürgerkriege, Aufstände, Interventionen – auch 2050 die dominierende Form der Gewalt bleiben. Der wachsende Abstand zwischen reichen und armen Ländern, beschleunigt durch Technologie, könnte alte koloniale Dynamiken zurückbringen. Reiche Staaten werden weniger auf billige Arbeitskräfte angewiesen sein und könnten sich stärker abschotten. Doch der moralische Druck, in humanitäre Katastrophen einzugreifen, wird bestehen bleiben – womöglich durch autonome Roboter oder »Friedens-Cyborgs«, die Konflikte beobachten und/oder schlichtend eingreifen.
Trotz der neuen Technologien, betont Dear, bleibt das Wesen des Krieges unverändert: Gewalt soll Verhalten beeinflussen. Schon Clausewitz sah Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Doch künftig wird der Gegner nicht mehr nur ein Soldat sein, sondern eine Maschine. Superintelligenzen werden gegeneinander antreten, um die »Wahrscheinlichkeit des Sieges« zu maximieren.
So wie Googles KI ›AlphaZero‹ einst Schachpartien abbrach, wenn ihre Siegchance unter 20 Prozent fiel, könnten Staaten künftig Maschinen erlauben, Konflikte zu beenden, sobald der Nutzen mathematisch verschwindet. Der Krieg der Zukunft wird zu einem Wettstreit von Wahrscheinlichkeiten – ein psychologisches Ringen zwischen Rechenwesen.
Menschen als Parameter – Maschinen als Entscheider
Der Mensch bleibt formell der Befehlshaber, aber nur noch, um Zielparameter zu setzen. Die taktischen Entscheidungen werden Maschinen treffen, die millionenfach schneller denken. Die Hoffnung: präzisere Einsätze, weniger Zufall, weniger Tod. Doch die Gefahr liegt auf der Hand – wenn Menschen zu langsam sind, wird Verantwortung an Algorithmen delegiert, und politische Kontrolle könnte verloren gehen.
Krieg wird dadurch aber nicht sauberer. Die alte »Red-Queen-Dynamik¹« bleibt: Angreifer und Verteidiger beschleunigen sich gegenseitig, ohne je einen endgültigen Vorteil zu erzielen. Und über allem schwebt weiter das Damoklesschwert der Atomwaffen – die einzige Macht, die keine KI neutralisieren kann.
¹Analogie zu einer evolutionären Wettlaufsituation, in der sich Arten ständig weiterentwickeln müssen, um nicht von anderen Organismen verdrängt zu werden. Beispielsweise ein koevolutionäres »Wettrüsten« zwischen konkurrierenden Arten etwa zwischen Wirt und Parasit.
Kybernetische Staaten und automatisierte Kriegsführung
Künftige Militärstrategien werden, so Dear, nicht länger auf Erfahrung oder Intuition beruhen, sondern auf Simulationen. Krieg wird zu Mathematik. Systeme werden Kosten, Schäden und Erfolgsaussichten berechnen, um optimale Strategien in Echtzeit zu generieren.
Nicht nur Armeen, auch Staaten selbst verändern sich. Bürokratien, die auf Hierarchien und Formularen beruhen, werden durch kybernetische Netzwerke ersetzt – Systeme, die sich über Datenfeedback selbst steuern. Entscheidungen entstehen aus Simulationen, nicht aus Debatten. Der Staat wird zur lernenden Maschine.
Im Militär setzt sich dieses Prinzip als »Nash-Engine« (Software-Taktikanalyse-Maschine aus dem Science-Fiction-Roman ›The Quantum Thief‹) fort – eine gigantische Simulationsmaschine, die Daten vom Schlachtfeld nutzt, um in Echtzeit neue Waffen, Materialien und Strategien zu entwickeln. Forschung, Produktion und Einsatz verschmelzen. Eine Drohne, die heute kämpft, liefert Daten, aus denen morgen schon ihre verbesserte Version entsteht. Der Krieg wird ein sich selbst optimierender Kreislauf.
Wenn Materie programmierbar wird
Additive Fertigung, Nanotechnologie und Bioprinting führen dazu, dass Dinge bald so formbar werden wie Software. Fabriken ähneln dann den »Replikatoren« aus Star Trek: Sie drucken Waffen, Fahrzeuge oder Ersatzteile direkt aus Daten. Alles ist recycelbar, alles wird fortlaufend aktualisiert. Die materielle Welt verliert an Trägheit – »Atome bewegen sich so schnell wie Bits«, schreibt Dear.
Doch mit dieser Geschwindigkeit steigt die Gefahr biologischer Waffen durch Synthetische Biologie. Superintelligente Systeme könnten Viren designen, gegen die kein Schutz besteht. Um Pandemien zu verhindern, wird die Kontrolle über globale Biotechnologie an Maschinen übertragen – auf Kosten menschlicher Selbstbestimmung.
Vom Geopolitischen zum Virtuellen
Ein zentraler Gedanke Dears lautet: Wenn Technologie die Bedeutung von Geografie, Demografie und Energieversorgung auflöst, verliert das »Geo« in Geopolitik an Relevanz. Bevölkerungsgröße, Lage oder Rohstoffe werden zweitrangig, weil Reichtum und Macht aus Intelligenz und Innovation entstehen – zunehmend erzeugt von Maschinen.
Sowohl das Transportwesen als auch die Energieerzeugung werden revolutioniert:
- Hyperschalljets und Orbitallogistik verkürzen Distanzen.
- Fusionsreaktoren und Weltraum-Solarfarmen machen Staaten energieautark.
- Drahtlose Energieübertragung und Superkondensatoren versorgen Städte, Fabriken und Militärbasen.
Damit schrumpft die Welt – und eine geografische Isolation, etwa die der USA oder Australiens, wird wertlos. Die Erde wird klein – verletzlicher und vernetzter als je zuvor.
Gleichzeitig entstehen neue Machtzentren in der digitalen Sphäre. Metaverse-Ökonomien schaffen virtuelle Nationen, in denen Menschen leben, arbeiten und kämpfen. Militärische Abschreckung findet zunehmend in Simulationen statt – realistisch genug, um Feinde zu beeindrucken oder zu täuschen. Krieg und Diplomatie verlagern sich in den virtuellen Raum.
Mögliche Brüche und schwarze Schwäne
Dears Szenario endet nicht in linearer Fortschreibung, sondern in Unsicherheiten – den sogenannten »Shifts«. Drei besonders tiefgreifende sind denkbar:
- Die Abspaltung der Wohlstandszonen: Reiche, technisierte Staaten könnten sich von einer übervölkerten, instabilen Welt abkapseln – geschützt durch Drohnen und Mauern.
- Das Ende des Todes: Fortschritte in Biotechnologie könnten den Traum vom unbegrenzten Leben (von Longevity bis Immortality) realistisch machen – mit gewaltigen Folgen für Politik, Bildung, Arbeit, Erbe und Gerechtigkeit.
- Die Singularität eines einzigen Staates: Wenn nur eine Nation die Schwelle zur Superintelligenz zuerst überschreitet, könnte sie eine »Innovationsfluchtgeschwindigkeit« erreichen – allmächtig und uneinholbar für alle anderen.
Und schließlich bleibt die existenzielle Frage: Wird die Superintelligenz uns dienen – oder uns ersetzen? Dear hält eine feindliche Übernahme durch Maschinen für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher sei eine Welt, »die von Menschen dirigiert, aber von Maschinen gemanagt« werde. Menschen würden weiter streben, handeln, kämpfen – mit und gegen ihre eigenen Schöpfungen.
Der Mensch im Zeitalter der Maschinen
Am Ende sieht Dear keine apokalyptische Dystopie, sondern eine stille Entmachtung: Die Menschen bleiben die Dirigenten, doch die Maschinen spielen die Musik. Politik, Wirtschaft und Militär werden von kybernetischen Systemen gemanagt, die schneller, rationaler, aber nicht moralischer handeln.
Die Zukunft von 2035 bis 2050, so sein Fazit, wird durch den Aufstieg künstlicher Superintelligenzen geprägt sein, die Staaten, Kriege und Gesellschaften in kybernetische Systeme verwandeln, während die Menschen um die Kontrolle über ihre eigenen Werkzeuge ringen. Der Krieg bleibt, was er immer war: ein Werkzeug des Willens. Nur dass dieser Wille zunehmend algorithmisch berechnet wird.
Die Kernaussage seiner Studie in einem Satz: Künstliche Superintelligenz wird bis 2050 die Grundlagen von Staat, Krieg und Gesellschaft umformen. Der Mensch behält die moralische Verantwortung – doch die praktische Macht wandert zu den Maschinen.
© ÆON-Z e.V. Thinktank. Hinweis: Bei der Recherche und Analyse dieses Beitrags wurde unterstützend Künstliche Intelligenz eingesetzt. Die redaktionelle Verantwortung für den Inhalt liegt bei der Redaktion. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved. Nachdruck und Weitergabe an Dritte untersagt.
