Die freiwillige Selbstabschaffung?

Die freiwillige Selbstabschaffung?

»In den ersten 200.000 Jahren der Menschheitsgeschichte lebte der als Jäger und Sammler umherstreifende Homo sapiens in fließenden, egalitären Zivilisationen, die eine dauerhafte Herrschaft eines Einzelnen oder einer Gruppe verhinderten. Dann, vor etwa 12.000 Jahren, begann sich das zu ändern. Als die Menschen sich widerwillig auf den ersten Bauernhöfen und in den ersten städtischen Siedlungen versammelten, begannen sie, sich für ihren täglichen Lebensunterhalt auf neuartige, ›ausbeutbare‹ Ressourcen wie Getreide und Fisch zu stützen. Und als mächtigere Waffen verfügbar wurden, begannen kleine Gruppen, die Kontrolle über diese wertvollen Güter an sich zu reißen. Diese Ungleichheit der Ressourcen schlug bald in Machtungleichheit um, und die Menschen begannen, erste primitiv-hierarchische Organisationsformen zu errichten. Die ausübende Macht konzentrierte sich von nun an auf Fürsten, Könige, Pharaonen und Kaiser (und auf Ideologien, die erfunden wurden, um deren Herrschaft zu rechtfertigen).«

In einer epischen, 5.000 Jahre umfassenden Analyse warnt Dr. Luke Kemp vom ›Centre for the Study of Existential Risk‹ der Universität Cambridge eindringlich vor einem bevorstehenden globalen Zusammenbruch. Die Hauptursache sieht er in der extremen Ungleichheit, die unsere moderne Zivilisation prägt. Sein Buch »Goliath’s Curse: The History and Future of Societal Collapse«, das den Aufstieg und Fall von über 400 Gesellschaften untersucht, kommt zu dem Schluss, dass die heutige, global vernetzte Welt einem beispiellosen Kollaps entgegensteuert, der verheerender wäre als alle bisherigen.

Kemp verwirft bewusst den Begriff ›Zivilisation‹, den er als beschönigende Propaganda der herrschenden Klassen betrachtet. Stattdessen prägt er den Begriff »Goliaths«, um hierarchische und auf Herrschaft basierende Gesellschaften wie Königreiche und Imperien zu beschreiben. Er argumentiert in einem Interview mit der britischen Zeitung The Guardian, dass diese eine Art evolutionären Rückschritt gegenüber den egalitären und kooperativen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften darstellen, die Hunderttausende von Jahren überlebten. Laut Kemp entstehen diese »Goliath-Staaten« nicht zufällig, sondern benötigen drei spezifische ›Treibstoffe‹:

  • Kontrollierbare Nahrungsüberschüsse: Insbesondere Getreide, das im Gegensatz zu verderblichen Lebensmitteln leicht zu lagern, zu besteuern und zu stehlen ist. Als Beispiel nennt er die Cahokia-Kultur in Nordamerika, wo der Maisanbau zur Entstehung einer Priester-Elite und zu Menschenopfern führte.
  • Waffenmonopole: Die Entwicklung von Waffen wie Bronzeschwertern, die von einer kleinen Gruppe monopolisiert werden konnten, ermöglichte es dieser, andere zu unterwerfen.
  • ›Eingesperrtes Land‹: Geografische Barrieren wie Wüsten, Meere oder Berge, die die Menschen daran hindern, vor tyrannischen Usurpatoren zu fliehen. Die frühen Ägypter waren beispielsweise durch den Nil und das Rote Meer gefangen und unterwarfen sich den Pharaonen.

Der zentrale Keim des Untergangs für jeden »Goliath« ist laut Kemp die Ungleichheit. Diese wird nicht durch eine allgemeine menschliche Gier angetrieben, sondern durch eine kleine Funktionselite an der Spitze, die von Zügen der »dunklen Triade« – Narzissmus, Psychopathie und Machiavellismus – geprägt ist. Diese Funktionselite treibt einen unerbittlichen Wettbewerb um Status und Ressourcen voran, was zu Korruption, Verelendung der Massen, Umweltzerstörung und letztlich zu einer ausgehöhlten, fragilen Gesellschaft führt. Historische Beispiele wie das Weströmische Reich oder die chinesische Han-Dynastie zeigen, dass dem Kollaps stets eine Phase extremer Vermögensungleichheit vorausging.

Während frühere Zusammenbrüche oft regional begrenzt waren und für die einfache Bevölkerung sogar vorteilhaft sein konnten – Kemp merkt an, dass die Menschen nach dem Fall Roms größer und gesünder wurden, da sie von Steuern und Unterdrückung befreit waren –, wäre ein heutiger Kollaps global und katastrophal. Die Gründe dafür sind ebenfalls dreifach:

  • Moderne Waffen: Konflikte um die Wiederherstellung der Dominanz würden heute nicht mit Schwertern, sondern mit Atomwaffen ausgetragen.
  • Globale Abhängigkeit: Anders als früher sind die meisten Menschen heute hochspezialisiert und von einer globalen Infrastruktur abhängig. Ein Zusammenbruch dieser Systeme würde auch ihren Untergang bedeuten.
  • Verschärfte Bedrohungen: Die heutigen Risiken wie der globale Klimawandel, über 12.000 Atomwaffen, unkontrollierbare KI, Killerroboter und die Gefahr künstlich erzeugter Pandemien sind weitaus gravierender als die regionalen Krisen der Vergangenheit.

Kemp sieht seine Thesen in der heutigen Welt bestätigt und nennt explizit die mächtigsten politischen Führer als Beispiele für die »dunkle Triade«: Trump sei ein Narzisst wie aus dem Lehrbuch, Putin ein kalter Psychopath und Xi Jinping ein meisterhafter machiavellistischer Manipulator.

Kemp argumentiert, dass nicht die Menschheit als Ganzes, sondern kleine, mächtige Gruppen wie der militärisch-industrielle Komplex, große Technologiekonzerne und die fossile Brennstoffindustrie diese globalen Risiken aus Profit- und Machtgier verursachen.

Als Ausweg aus diesem ›Endspiel‹ schlägt Kemp eine radikale gesellschaftliche Transformation vor. Dazu gehören die Etablierung echter Demokratien durch Bürgerversammlungen, um Macht zu dezentralisieren, und eine drastische Vermögenssteuer oder -obergrenze (er schlägt z.B. zehn Millionen US-Dollar vor), um die Manipulation des politischen Systems durch Superreiche zu unterbinden. Auf individueller Ebene appelliert er an jeden, sich nicht an der Zerstörung zu beteiligen, also nicht für destruktive Industrien zu arbeiten und gleichzeitig auf Dominanz basierende Beziehungen abzulehnen. Obwohl er pessimistisch bleibt, ob sich dieser 5.000 Jahre andauernde Trend umkehren lässt, betont er die moralische Pflicht zum Widerstand und zum Kampf für eine gerechtere Welt.

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