Aussichten auf den Bürgerkrieg¹: Wie Prof. Betz durch Gießen bestätigt wurde

Der kanadische Militärhistoriker David J. Betz, der am Department of War Studies des King’s College London lehrt, beschreibt seit Jahren ein Konfliktmodell, das er als »Future Civil War« bezeichnet. Es ist kein klassischer Bürgerkrieg mit Frontverläufen, sondern ein innergesellschaftlicher, urbaner Kleinkrieg, in dem radikale Milieus staatliche Räume nicht mehr nur politisch, sondern zunehmend operativ herausfordern. Das Leitmotiv: »Vorpolitische Milieus entwickeln militärähnliche Strukturen, während der Staat die Fähigkeit zur monopolisierten Gewaltanwendung partiell verliert.« Die Linien dieses Szenarios wurden am 29. November 2025 in Gießen mit bemerkenswerter Schärfe sichtbar.

Betz argumentiert, dass moderne westliche Gesellschaften bereits heute schleichend in Konfliktformen hineinrutschen, die früheren Phasen von Bürgerkriegen ähneln: in diffuser Gewalt, hochmobilisierten Ideologien und der Erosion staatlicher Durchsetzungsfähigkeit. Entscheidend sei nicht der offene Ausbruch eines bewaffneten Krieges, sondern der Organisationsgrad der beteiligten Milieus – lange bevor es überhaupt zur Eskalation kommt. Und genau hier sieht Betz eine gefährliche Asymmetrie. Islamextremistische Gruppierungen und mit ihnen sympathisierende linksextremistische Netzwerke seien organisatorisch und logistisch weit voraus sowie international vernetzt, während rechtsgerichtete autochthone Milieus im Vergleich darauf angewiesen wären, im Ernstfall erst Strukturen aufzubauen.

Die Ereignisse von Gießen am 29.11.2025 scheinen diese Prognose in überraschend präziser Weise zu illustrieren. Was als Protest gegen den Gründungsparteitag einer neuen rechten AfD-Jugendorganisation begann, entwickelte sich zu einer Art Probeoperation, deren Durchführung an paramilitärische Manöver erinnerte. Gemäß Augenzeugenberichten und zahlloser Video-Dokumentationen in den Sozialen Medien traten (laut Polizei) linksextreme Gruppen in einer Stärke von rund 25.000 Personen auf – eine Rekrutierung, die Beobachter vor Ort als »in Divisionsstärke« beschrieben.

Die Generalstabslogik eines Protests

Schon Tage vor dem Ereignis zeigte sich die Wirkmacht der bloßen Ankündigung: Schulen schlossen, Geschäfte stellten den Betrieb ein, ein Weihnachtsmarkt im Umland wurde vorsorglich abgesagt. Die Stadt geriet in eine Art Schockstarre. Was dann folgte, war keine klassische Demonstration, sondern ein »generalstabsmäßig geplanter Angriff auf die Infrastruktur einer ganzen Region«, wie manche Medien formulierten.

Gezielt blockierten Gruppen jene Zufahrtswege, die zum Veranstaltungsort führten. Autobahnen und eine Bundesstraße waren ab dem frühen Morgen unpassierbar, teilweise mit herangeschafften Baumstämmen und herausgerissenen Verkehrsschildern versperrt. Nichts deutet hier auf spontane Einfälle hin; vielmehr zeigt sich eine professionelle Vorerkundung, wie Betz sie als typisch für die urbane Konfliktvorbereitung beschreibt: Die Topografie eines Raumes wird systematisch erfasst, Schwachstellen identifiziert, Mobilitätsachsen kontrolliert. Dies entspricht genau dem, was Betz als »Urban battlespace preparation« bezeichnet: zivile Räume werden taktisch vermessen, als zukünftige Gefechtszonen.

Dieser Charakter einer durchstrukturierten Operation zeigte sich auch im Auftreten der Gruppen selbst. Beobachter sprachen von uniformierten Truppenteilen, die nicht nur ein einheitliches Erscheinungsbild boten, sondern auch mit klarer Rollenverteilung agierten: eigene Sanitäter, eigene Medienleute, anwaltliche Begleitung, kommuniziert wurde über Wegwerfhandys. Selbst Abseilaktionen von Brücken gehörten zum taktischen Repertoire – Symbole einer militanten Kultur, die sich schon im Frieden als paramilitärische Avantgarde versteht.

Mobilisierungskraft als Machtfaktor

Betz misst der Fähigkeit eines Milieus, große Menschenmengen als operative Proto-Armee zu mobilisieren und logistisch zu führen, zentrale Bedeutung zu. Nicht die Bewaffnung, sondern die organisierte Präsenz im urbanen Raum entscheide darüber, welche Seite im Konfliktfall handlungsfähig bleibt. Dass in Gießen etwa 25.000 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengeführt werden konnten, vielfach mit Bussen – angeblich waren bis zu 200 Busse (wahrscheinlich mehr) im Einsatz – zeigt eine Mobilisierungskraft, die weit über das spontane Aktivismus-Niveau hinausgeht. Sie verweist auf Strukturen, Netzwerke und erhebliche finanzielle Ressourcen.

Diese Struktur folgt exakt dem Muster, das Betz den »radikal-progressiven Milieus« zuschreibt: Top-down-Organisation, Rollenverteilung, logistischer Überbau, redundante Kommunikationswege.

Genau darin erkennt er eine gefährliche Dynamik: Während linke und islamextremistisch beeinflusste Milieus diese Fähigkeiten längst kultiviert haben, verfügen die potenziellen Gegenspieler – fragmentierte, reaktive, schlecht organisierte Gruppierungen unter autochthonen Rechten, die erst im Krisenfall entstehen würden – über nichts Vergleichbares. Das Machtgefälle entstehe also lange vor dem eigentlichen Konflikt – ein Motiv, das Betz zentral betont. Die Asymmetrie des Vorbereitungsgrades sei daher kein politisches, sondern ein machtstrategisches Problem. Je besser ein Milieu mobilisieren und logistisch führen kann, desto eher kann es dem Staat zeitweise territoriale Kontrolle entreißen – sogar ohne Schusswaffen.

Wenn der Staat sich selbst bekämpft

Besonders brisant ist die Beobachtung, dass Teile des linksextremen Milieus indirekt aus dem NGO-Sektor finanziert werden – ein Problem, das noch von vielen Medien beschönigt wird: Der Staat finanziert »mit Steuergeld eine Truppe, die ihn selbst angreift«. Ob diese Einschätzung im politischen Detail zutrifft oder nicht: Betz warnt seit Jahren davor, dass westliche Staaten sich durch eine Vielzahl politischer Fördermechanismen ungewollt selbst schwächen. Er spricht von einem »Self-disarming State«, der seine Fähigkeit, Ordnung durchzusetzen, an externe Akteursgruppen delegiert oder diese zumindest duldet – bis er ihnen nicht mehr gewachsen ist.

Ein Menetekel?

Der 29.11.2025 war kein Bürgerkriegstag. Aber er war – im Licht der Theorie von Prof. Betz – ein Tag, der zeigte, wie weit Teile der Gesellschaft bereits in eine Vorstufe solcher Konfliktformen vorgedrungen sind. Gießen wurde zum temporären Schauplatz eines Kräfteverhältnisses, das den Staat nicht stürzen, aber problemlos herausfordern konnte. Nicht in Form eines bewaffneten Aufstands, sondern als temporäre, aber vollständige Übernahme urbaner Handlungsräume. Die Polizei verhinderte in Gießen Schlimmeres; doch auch das gehört zum Muster: Der Staat reagiert, während andere agieren. Betz beschreibt solche Aktionen daher als Probegefechte, in denen radikale Gruppierungen ihre logistischen Abläufe testen, Kommunikationsketten überprüfen und die Reaktionsfähigkeit der staatlichen Sicherheitsbehörden ausloten.

Vielleicht wird man eines Tages zurückblicken und sagen, Gießen sei kein Ausnahmeereignis gewesen, sondern ein Vorgeschmack auf einen Konflikttypus, der sich schleichend Bahn bricht. In diesem Sinne könnte jener Novembertag als eindrucksvolles – und beunruhigendes – Beispiel dafür gelten, wie moderne Demokratien in eine neue Ära innergesellschaftlicher Spannungen eintreten: eine Ära, deren Konflikte nicht erklärt, sondern geübt werden. Die bislang wissenschaftlich unbeantworteten Fragen lauten: Wer hat Interesse an solchen Zuständen der gesellschaftlichen Spaltung (divide et impera) und Konfrontation? Wer fördert, unterstützt und finanziert sie? Zu welchem Zweck und mit welchem Ziel?

¹»Aussichten auf den Bürgerkrieg« ist ein 1993 von Hans Magnus Enzensberger verfasster Essay, wonach auch »in den Metropolen […] der molekulare Bürgerkrieg bereits begonnen« (habe). Enzensberger beschreibt, »wie nach dem Kalten Krieg alte Ordnungen zerfallen und neue, ›molekulare‹, allgegenwärtige Konflikte entstehen, die traditionelle Politik und Moral überfordern, indem sie die klassische Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden auflösen und eine neue, unübersichtliche Realität schaffen, in der Gewalt allgegenwärtig wird.«
Quellen:
Mehr als 50 Polizisten bei Ausschreitungen verletzt, BILD Online, 01.12.2025.
Polizei zählt 25.000 Demo-Teilnehmer – AfD-Bundestagsabgeordneter angegriffen, WELT Online, 30.11.2025.
Gießen ist ein Menetekel, Cicero Online, 01.12.2025.
Aus Sicht vieler Autonomer ist die Zeit für Diskussionen vorbei, WELT Online, 03.12.2025. Zitat: Für Extremismus-Forscher Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London, fügen sich die Ereignisse von Gießen in eine breitere Entwicklung ein. „Aus Sicht vieler Autonomer ist die Zeit für Diskussionen vorbei“, sagt Neumann, der CDU-Mitglied ist, WELT. „Jetzt geht es darum, dem vermeintlichen Faschismus unmittelbar entgegenzutreten.“ Diese Haltung verschiebe die Grenzen dessen, was innerhalb der Szene als legitim gilt – Gewalt gegen Personen oder Polizeikräfte werde eher in Kauf genommen, und das Feindbild weite sich stetig aus. Neumann sieht darin eine Dynamik, die weit über einzelne Eskalationen hinausreicht: „Das Verständnis von ,Faschismus‘ dehnt sich immer weiter aus, sodass am Ende eine Auseinandersetzung mit dem gesamten System steht.“ In dieser Logik richtet sich die Konfrontation nicht mehr nur gegen Rechtsextreme oder die AfD selbst, sondern zunehmend auch gegen staatliche Institutionen, denen vorgeworfen wird, „den Faschisten den Weg freizuprügeln“.
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