Gefahr in Verzug? Vorrevolutionäre Zeiten voraus …

Ein Kommentar

»Sollen sie doch Kuchen essen« soll die französische Königin Marie Antoinette auf die Nachricht geantwortet haben, dass das Volk kein Brot mehr hätte. Zwar ist dieses Zitat historisch widerlegt, wie man weiß. Dennoch illustrierte es trefflich die Arroganz der adeligen Funktionseliten des Ancien Régime vor der Revolution 1789. Und ihren Hochmut gegenüber den sozialen Nöten der breiten Bevölkerungsmehrheit. »Da ist es auch nicht richtig, dass man immer die Sorgen und Nöte der Bevölkerung ernst nehmen muss. Was haben die denn für Sorgen und Nöte? Ich versteh das nicht. Ich kann das nicht verstehen«, sagte mit angewidertem Gesichtsausdruck die damalige Schatzmeisterin¹ der SPD Wustermark, Elfriede Handrick, in einem Bericht des ›ZDF heute journals‹ zum Wahlkampf in Brandenburg im August 2019.²

Europa steht an einem Punkt, an dem sich Geschichte zu wiederholen scheint – nicht in Form derselben Ereignisse, sondern durch dieselbe seelische Tektonik, die Revolutionen stets vorbereitet hat. Noch herrscht Ordnung, Gesetze gelten – wenn auch immer öfter mit zweierlei Maß vermessen, Parlamente tagen, Bürokratie und Medien funktionieren leidlich. Doch unter der Oberfläche brodelt etwas – leise, aber stetig. Es ist jenes »moralische Erdbeben«, das entsteht, wenn Herrschende und Beherrschte in unterschiedlichen oder sogar in gegensätzlichen Realitäten leben.

Die Entkopplung

Jede Revolution beginnt mit Entfremdung. Am Anfang steht keine Barrikade, sondern das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden. In Frankreich vor 1789, im Russland des Zarenreiches, in den Ostblockstaaten der 1980er Jahre: stets war es die Distanz zwischen Lebenswelt und Macht, zwischen Erfahrung und offizieller Erzählung, die eine widerständige Dynamik erzeugte. Wer heute Europa betrachtet, erkennt ähnliche Muster.

Die Funktionseliten – Politiker, Juristen, Beamte, Medienschaffende, Experten – sprechen in der Syntax des postmodernen, postnationalen Fortschritts. Doch die Bevölkerung spürt Rückschritte: Reallöhne stagnieren, die Inflation galoppiert, eine weltfremde Energiepolitik verteuert das tägliche Leben, eine langanhaltende, völlig aus dem Ruder gelaufene Migration verändert vertraute Strukturen, Bürokratie und Regulierungsdichte wachsen, während individuelle Freiheiten unter Beschuss geraten. Zwischen »Fortschrittskoalition« und abgestandener Realität öffnet sich ein Graben. Die Menschen merken: Die politische Sprache beschreibt nicht mehr das, was sie sehen, spüren, wissen.

In dieser Sprachlosigkeit beginnt die Entpolitisierung der Demokratie. Der Bürger zieht sich zurück, weil er keine Antwort mehr erkennt. Aber wo unmittelbare Repräsentation zerbricht, wächst der politische Untergrund: Unmut, Spott, Zorn – und schließlich Identitäten jenseits des Systems.

Die Delegitimierung

Die zweite Stufe ist der Verlust moralischer Autorität. Revolutionen entstehen selten aus ökonomischem Elend allein; sie explodieren, wenn das Elend mit moralischer Ungerechtigkeit verschmilzt. Wenn Bürger das Gefühl haben, nicht nur belastet, sondern dabei noch verhöhnt zu werden. Wenn diejenigen, die Macht ausüben, sich gleichzeitig immunisieren – rechtlich, moralisch und symbolisch.

In Deutschland ist dieser Prozess sichtbar: Während Regierungen immer neue Pflichten und Steuern verhängen, wächst das Gefühl, dass die Pflichten einseitig verteilt sind. Autochthone tragen, Allochthone empfangen – so lautet die populäre Formel eines rollenden Ressentiments. Ob sie sozialstatistisch stimmt, ist zweitrangig: Ihre politische Wahrheit liegt im Gefühl der asymmetrischen Solidarität.

Die Funktionseliten dagegen reagieren mit Pathologisierung. Sie setzen eine fragwürdige Moral an die Stelle der offensichtlichen Wahrheit. Kritiker werden als Populisten, Hetzer, Staatsfeinde markiert. Damit aber entziehen sich die Herrschenden dem demokratischen Dialog, der allein ihre Legitimation trägt. Der Schritt von der moralischen Überheblichkeit zur politischen Isolation ist klein – und oft irreversibel.

Die Mobilisierung

Revolutionen entstehen nicht aus Mehrheit, sondern aus Entschlossenheit. Die »aktiven Minderheiten«, von denen Lenin einst sprach, benötigen weder Massen noch Mandate. Es genügt ein ideologischer Katalysator, ein Symbol kollektiver Demütigung.

Heute könnte dieser Katalysator aus der wachsenden Doppelmoral resultieren, mit der die politische Klasse handelt: Bürger sollen dienen, zahlen, verzichten – im Namen von Werten, deren Substanz die gleichen Funktionseliten zugleich relativieren. Männer, denen man Männlichkeit absprach oder »toxische Männlichkeit« vorwarf, sollen plötzlich für eine »europäische Verteidigungsordnung« kämpfen; Nationalbewusstsein, eben noch verdächtig, wird als Dienstpflicht rehabilitiert. Und diejenigen, die als Nationalisten beschimpft wurden, gelten plötzlich als »vaterlandslose Gesellen«, wenn sie sich dem Kriegsdienst mit der Waffe verweigern.

In solchen Widersprüchen liegt Sprengstoff. Denn eine Gesellschaft, die ideologisch gespalten und ökonomisch erschöpft ist, trägt die Revolution als Möglichkeit immer in sich. Wenn moralische Empörung auf soziale Unsicherheit trifft, kann aus passivem Missmut aktive Opposition erwachsen.

Die Kontrollillusion

Herrschaftssysteme erkennen selten rechtzeitig, wann sie zu weit gegangen sind. Sie verwechseln Ordnung mit Kontrolle, Zustimmung mit Angst, politische Ruhe mit Resignation. Doch politische Systeme beginnen zu zerfallen, lange bevor sie zusammenbrechen.

Die aktuelle Reaktion der supranationalen EU auf oppositionelle Standpunkte und Gruppen folgt diesem Muster: juristische Einschränkungen, medialer Druck, soziale Ächtung. Wenn selbst eine systemimmanente Opposition – wie konservative oder rechte Parteien – durch gesetzliche Konstruktionen faktisch ausgeschlossen werden soll, dann verlieren die Institutionen ihren neutralen Charakter. Verfassungen bestehen aus Papier, aber Vertrauen ist ihr Blut. Wenn es versiegt, hilft kein Apparat.

Das 20. Jahrhundert liefert genug Beispiele dafür: Spätzeitliche Reiche – ob das Zarenreich oder die DDR – hielten sich bis zum Moment des Vertrauensverlusts stabil. Ein einziges Signal konnte genügen, um die Statik zu zerstören. Man könnte sagen: Revolution ist weniger ein Gewitter als vielmehr eine chemische Reaktion. Man spürt nicht, wann sie beginnt – nur, wann es zu spät ist.

Die Spirale der Härte

Wenn Macht auf Protest mit Repression reagiert, beschleunigt sie die Dynamik, die sie zu stoppen hofft. Diese »Spirale der Härte« ist die vorletzte Stufe jeder Revolution.

Anfangs will man nur Ordnung wiederherstellen, später will man Gegner vernichten. Der Staat, der sich als Therapeut missversteht, wird zum Disziplinarapparat und am Ende zum Gulag. Jede Kritik gilt als Bedrohung, jeder Widerspruch als Extremismus. Je nervöser das Establishment, desto sichtbarer sein Kontrollbedürfnis – in Form von Sprachregelungen, Meldestellen, Wortfiltersystemen, Meinungsgesetzen, Majestätsbeleidigungsparagrafen, Cancel Culture …

Doch in dieser Überreaktion liegt die Selbstzerstörung. Denn Autorität kann nicht verordnet, sondern nur geglaubt werden. Wenn der Staat seine Bürger wie potenzielle Feinde behandelt, verwandelt er sie in tatsächliche Gegner. Revolution ist dann kein Ziel, sondern eine Folge.

Der Kipppunkt

Die letzte Stufe ist nicht planbar. Es braucht weder eine bewaffnete Gruppe noch ein Manifest. Oft genügt ein Symbolmoment: ein verbotenes Plakat, ein erschossener Demonstrant, ein Justizskandal, ein Stromausfall, die zeigen, dass das System nicht unfehlbar ist, sondern fragil und vulnerabel.

Ab dann beschleunigt sich die Geschichte. Loyalitäten brechen schneller, als Gesetze geändert werden können. Beamte streiken und Arbeiter kündigen innerlich, Medien beginnen zu relativieren, Nachbarn sprechen wieder miteinander – erst flüsternd, dann laut. Das System verliert die Macht über die Deutung. Ab hier ist Revolution keine Möglichkeit mehr, sondern Realität.

Was bleibt

Revolutionen lösen selten, was sie ankündigen. Sie beseitigen eine Form der Lüge – um Raum für neue zu schaffen. Und doch sind sie (manchmal) zwanghaft notwendig, weil Gesellschaften, die nicht zur Selbstkorrektur fähig sind, irgendwann von innen implodieren. Das EU-Europa, das sich einst als moralisches Zentrum verstand, sieht sich heute in einem paradoxen Zustand: hochzivilisiert in Verwaltung, aber roh in der Selbstwahrnehmung. Widerstrebende Wahrheiten werden als Desinformation denunziert. Wer Kritik übt, gilt nicht als Bürger, sondern als Bedrohung der Zivilreligion. Doch genau diese Haltung könnte das auslösen, was sie verhindern will – eine politische Eruption aus der sozialen Tiefe.

Vielleicht ist die wahre Frage nicht, ob, sondern wann die Selbstverständlichkeit zerbricht, dass dieses Europa alternativlos sei. Denn jede Revolution beginnt mit einem Satz, den plötzlich viele denken: »Es reicht«.

¹SPD – Ohrfeige für Wähler – Wie Elfriede Handrick die Arbeiterpartei in den Abgrund reißt – 2019, YouTube, 14.08.2019, ²SPD – Ohrfeige für Wähler vor laufender Kamera im ZDF, Tichys Einblick, 13.08.2019,
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